Israel trifft einige Klarstellungen - als überlegene Ordnungsmacht vor Ort Israel-Gaza-Krieg: Anmerkungen zur Frage der Gewalt (Teil 2)

Politik

Die erste Klarstellung an die Akteure vor Ort, an etwaige Akteure ausserhalb und an die westliche Wertegemeinschaft geht dahin, dass alle den Ausrottungskrieg widerspruchslos hinzunehmen haben.

Israelische Soldaten mit dem US-Botschafter Dan Shapiro vor einem Iron Dome Radar-System, April 2012.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Israelische Soldaten mit dem US-Botschafter Dan Shapiro vor einem Iron Dome Radar-System, April 2012. Foto: U.S. Embassy Tel Aviv (CC-BY-SA 2.0 cropped)

4. Dezember 2023
5
2
8 min.
Drucken
Korrektur
Wer dem nicht folgt, habe damit bewiesen, dass er ein Sympathisant der Hamas und damit und darüber hinaus ein Antisemit, ein Judenhasser sei. Das ist das Eine. Darin eingeschlossen, betrachtet Israel seinen Ausrottungskrieg als seine, und nur als seine Angelegenheit, in die sich weder was die politischen Ziele, noch was die Regeln eines erfolgreich zu bewerkstelligenden Ausrottungskrieges betrifft, irgend jemand einzumischen hat.

Die Regeln, die ein solches Unternehmen hinsichtlich der Kriegsführung und der eingesetzten Gewaltmittel eben erfordern, um den Sieg über "die menschlichen Tiere" in Gestalt der isamischen Widerstandsbewegung Hamas zu erreichen, bestimmt Israel allein. Diese Botschaft richtet sich insbesondere an die westliche Wertegemeinschaft, die sich nach Israels Sichtweise anmasst, Israels Kriegsführung kritisch-konstruktiv mit allerlei Ermahnungen, Aufforderungen und Erwartungen zu begutachten und zu begleiten. Insbesondere, was die Frage des sogenannten "humanitären" (Kriegs-) Völkerrecht angeht. Denn, drastisch formuliert, aber kaum von der Hand zu weisen impliziert die israelische Vorgehensweise dies:

This is a text-book case of genocide... What's more, the governments of the United States, the United Kingdom, and much of Europe, are wholly complicit in the horrific assault. Not only are these governments refusing to meet their treaty obligations “to ensure respect” for the Geneva Conventions, but they are in fact actively arming the assault, providing economic and intelligence support, and giving political and diplomatic cover for Israel's atrocities. (Craig Mokhiber, 28.10.2023)19

Zwar weiss Israel, dass sich seine Freiheit in der Kriegsführung und in der Freiheit, genau die Gewaltmittel zum Einsatz zu bringen, die es für einen Ausrottungskrieg bedarf, letztendlich der Zustimmung seines transatlantischen Wertepartners verdankt. Und die Zusicherung und Waffenlieferungen seitens der USA, Deutschlands und der europäischen NATO-Partner sind ihm willkommen.

Andererseits besteht Israel darauf, dass es prinzipiell allein einer kriegsführenden Nation zusteht, das unmittelbare Kriegsgeschehen zu beurteilen und das für den militärischen Sieg Notwendige zum Einsatz zu bringen. Die geschätzte westliche Wertegemeinschaft "..came to us in wartime and brought one clear message: We not only support you – we hope for your victory. We welcome this. We will stand alone but it is good to stand together because we have no other choice." (Netanyahu, 28.10.2023)20

Dass Israel keine andere Wahl habe, ist zu bezweifeln. Dass es gewillt ist, alles Notwendige in der Kriegsführung und in der Wahl der eingesetzten Gewaltmittel für einen erfolgreichen Ausgang seines Ausrottungskrieges in Anschlag zu bringen, teilt es in seinen täglichen Lagebeurteilungen der regionalen und der Weltöffentlichkeit frank und frei mit. Aber immer in der Form, des "We stand allone", will heissen: Wir allein bestimmen den Einsatz unserer Gewaltmittel. Ganz im Unterschied zum Stellvertreterkrieg der Ukraine gegen die russischen menschlichen Tiere, die ohne westliche NATO-Kriegsteilnahme mehr oder weniger von heute auf morgen besiegt wäre.

In dieser ihm von den USA und den anderen westlichen Wertepartnern zugebilligten Freiheit beschiesst und bombardiert die israelische Luftwaffe im Rahmen seines Ausrottungskrieges nicht nur den Gazastreifen maximal intensiv, sondern auch Ziele in Syrien und im Libanon, um allen regionalen Akteuren einschliesslich dem Iran und der Hizbollah zu verdeutlichen, dass sich Israel als die überlegene, regionale Aufsichts- und Ordnungsmacht sieht und definiert. Nachdrücklich untermauert durch seine regionale nukleare Überlegenheit. Dies die dritte Klarstellung Israels, diesmal an seine Nachbarn.

Kompromisslos aufgefordert sind damit alle regionalen Mächte in der arabisch-muslimischen Nachbarschaft, Israel praktisch darzulegen, wie sie sich zu Israels regionalen Vormachtsanspruch, zu seinem Ausrottungskrieg, sowie zu Israels Umgang mit den Palästinensern im Gazastreifen, in der Westbank und auf den Golanhöhen zu stellen gedenken. Bislang ist aus Israels Nachbarschaft keine Stimme zu vernehmen, die ihrerseits kompromisslos gegen Israels Vormachtsstellung in der Region, gegen Israels offensiven, über Israels Grenzen hinausgehenden Ausrottungskrieg und gegen Israels Umgang mit den Palästinensern Stellung bezieht. Letztlich bislang auch nicht Katar.

Was den Iran des Näheren angeht, so teilt Israel ihm mit, dass die iranisch initiierte "Achse des Widerstandes", bestehend aus einem gewissen Bündnis zwischen dem Iran, dem Irak, dem Libanon, Syrien und dem Jemen, sowie den iranisch initiierten Proxy-Milizen, der Überlegenheit und allzeit drohenden Kriegsbereitschaft der israelischen Militärmaschinerie ausgesetzt ist. Hizbollah-Führer Hassan Nasrallah hat die Botschaft verstanden und überlässt den Gazastreifen und die Palästinenser insgesamt erst einmal ihrem Schicksal.21

Zwar arbeitet der Iran weiterhin kontinuierlich daran, die ständige Bedrohung durch Israel loszuwerden, seine nationale Selbstbehauptung und Souveränität nuklear zu untermauern und Israel als konkurrierende regionale Ordnungsmacht abzulösen. Andererseits hat der Iran im Moment ein positives Interesse daran, dass Israels Kompromisslosigkeit sich nicht zum berühmten "Flächenbrand" fortentwickelt. Denn die von China und Russland eingefädelten Annäherungsprozesse zwischen dem Iran, Saudi-Arabien und den VAE überzeugen bislang den Iran vom Nutzen "friedlicher" Beziehungen im Nahen und Mittleren Osten. Zudem muss er sich mit der durch die Sanktionspolitik des "maximalen Drucks" (Trump) ausgelösten zunehmenden Verelendung der iranischen Bevölkerung auseinandersetzen und die wachsende Unzufriedenheit im Inneren eingedämmt halten. Dies auch angesichts der zivilgesellschaftlichen Proteste zum Beispiel hinsichtlich der verfügten Kleiderordnung.

Keineswegs gesichert bleibt allerdings, ob nicht durch Israels Kompromisslosigkeit insbesondere gegenüber dem Iran und der Hizbollah im Libanon und angesichts der von Israel praktizierten Kriegsführung im Gazastreifen, die bislang relative Stabilität in der Region erhalten bleibt. Die angekündigte Ausstattung der israelischen Siedler im Westjordanland mit 10.000 Sturmgewehren (The Times of Israel, 10.10.2023);22 die durch die IDF unterstützte Siedler-Gewalt gegenüber den dort lebenden Palästinensern; das am 7. Oktober begonnene Bombardement des Gazastreifens; überhaupt die Unnachgiebigkeit, mit der Israel seinen Ausrottungskrieg fortführt, erwecken bei den politischen Führern der westlichen Wertgemeinschaft Bedenken, ob sich nicht Israels Kompromisslosigkeit kontraproduktiv auf die relative Stabilität in der Region auswirkt - womöglich noch zu Gunsten Chinas und Russlands, bzw. des BRICS-Bündnisses, das, wie gesagt, ab 1. Januar 2024 um Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die VAE zum BRICS plus erweitert werden soll. In diesem Sinn muss Israel gewisse Ermahnungen seitens seiner Schutzmacht wenigstens zur Kenntnis nehmen: "Biden Demands An End to Israeli Settler Violence Against Palestinians In West Bank." (Huffington Post, October,25, 2023)23

Hinzu noch die zu notierenden wachsenden Proteste und Empörung gegen Israels Unnachgiebigkeit, die in London etwa 300.000 Menschen auf die Strasse brachte mit der Forderung nicht nach insbesondere von Deutschland geforderten sogenannten "humanitären" Feuerpausen, sondern nach "Waffenstillstand" - was den Protestierenden gemäss dem westlichen Narrativ das wohlbekannte "Argument", das heisst den Schuldspruch einbrachte, es handle sich hier um reine, antisemitische "Hate Marches."24

Ob es den politischen Führern der Golfmonarchien auch weiterhin gelingt, die massiven Protest- und Sympathiekundgebungen für die Hamas und für die palästinensischen Brüder und Schwestern eingedämmt zu halten, ist auch nicht ausgemacht.

Dass auch der Globale Süden mehrheitlich eine durchaus andere Sichtweise zur Hamas, zum Umgang Israels mit den Palästinenser und zum israelischen Ausrottungskrieg einnimmt25 als die westliche Sichtweise, gebietet eine Klarstellung seitens der USA. Eine Klarstellung anlässlich der israelischen Kompromisslosigkeit, eine Klarstellung, die andererseits ohnehin längst fällig war.

Die Weltaufsichts- und Weltordnungsmacht meldet sich zu Wort

Die von den USA, von China und Russland jeweils eingefädelten Annäherungsprozesse26 zwischen Israel und den Golfmonarchien; die Einbindung Israels zum Beispiel in das durch die USA initiierte Konkurrenzprojekt IMEC (India-Middle East-Europe Economic Corridor) gegen die seit 10 Jahren bestehende chinesische Zweite Seidenstrasse (BRI - Belt and Road Initiative); insbesondere aber die Abraham-Abkommen aus dem Jahr 2020, die einer Normalisierung der Beziehungen Israels zu seinen Nachbarstaaten, den Weg bahnen mit dem für Israel erfreulichen Ergebnis, dass der Umgang Israels mit den Palästinensern als seine innere Angelegenheit anerkannt und die Palästinenser damit ausgemischt, das heisst, der israelischen Besatzungshoheit definitiv subsumiert sind - diese relative Befriedung des Nahen Ostens, an der allen Beteiligten in ihrem nationalen Konkurrenz-Interesse liegt, sehen insbesondere die politischen Führer der westlichen Wertegemeinschaft, allen voran die USA, durch Israels Kompromisslosigkeit hinsichtlich seines ausgreifenden Ausrottungskrieges in Frage gestellt.

Auf dem Spiel steht, dass die seit dem Syces-Picot-Abkommen (16.5.1916) über den Nahen und Mittleren Osten währende, bislang unangefochtene westliche Vorherrschaft und Hausmacht über diese Region, ab 14. Mai 1948 mit garantiert durch Israels Frontstaat und Vorpostenfuktion, durch Israels Kompromisslosigkeit gefährdet wird, wofür die Formel eines drohenden "Flächenbrandes" steht.

Dem tritt die Weltaufsichts- und Weltordnungsmacht Nummer Eins entschieden entgegen: gegenüber sämtlichen Akteuren vor Ort und gegen Akteure ausserhalb der unmittelbaren Region. Mit 2 Flugzeugträgern, Kampfflugzeugen und Hunderten von Soldaten sowie ein paar kurzen "Luftwaffeneinsätzen in Ostsyrien" (Zeit Online, 27.10.2023)27 führen die die USA allen Beteiligten und Unbeteiligten praktisch vor Augen, dass die USA nach wie vor die allererste, "regelbasierte" Aufsichts- und Ordnungsmacht in der Region sind. Unterstrichen darüber hinaus durch die Entsendung eines atomwaffenfähigen U-Bootes der Ohio-Klasse in die Region, mit der unmissverständlichen, präventiv und ernstgemeinten Drohung: "a message of deterrence to adversaries"(CNN Politics, November 5, 2023).28

Israel begrüsst den Einsatz von US-Atom-U-Booten in der Region als "Good News" (Hindustan Times, Nov 06, 2023)29 in der richtigen Einschätzung, dass die USA es keinem Akteur gestatten, dem Ausrottungskrieg seines Vorpostens und Frontstaates im Nahen und Mittleren Osten militärisch entgegen zu treten. So erhält der israelische Ausrottungskrieg seine atombewaffnete Unterstützung auch durch die USA.

Die seit über 100 Jahren währende, reichlich kriegserprobte, einigermassen stabile westliche Vorherrschaft über diese Region, die Institutionalisierung Israels als nichtmuslimischer Vorposten und Frontstaat der westlichen Hausmacht hat unangefochten zu bleiben. Ein etwaiger "Flächenbrand" kommt unter keinen Umständen in Frage. Dies die atombewaffnete Botschaft der USA. Die drohende Ansage, dass ein Flächenbrand durch eigenmächtiges Handeln irgendeines Akteurs vor Ort nicht gestattet ist, gilt andererseits auch gegenüber Israels Kompromisslosigkeit und Kriegsdrohung gegenüber dem Iran.

Manfred Henle

Fussnoten:

19 So Craig Mokhiber, ehemaliger, langjähriger Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen in seinem offiziellen Protest-Abschiedsbrief an Volker Turk, High Commissioner for Human Rights der Vereinten Nationen, unter: https://s3.documentcloud.org/documents/24103463/craig-mokhiber-resignation-letter.pdf Vgl. auch das informative, ausführliche Interview mit Democracy Now!, unter: https://www.democracynow.org/2023/11/1/craig_mokhiber_un_resignation_israel_gaza

20 Unter: https://www.gov.il/en/departments/news/statement-by-pm-netanyahu-28-oct-2023

21 Zur Nasrallah-Rede am 3. 11.2023 vgl. z.b den Kommentar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/hisbollah-hassan-nasrallah-rede-libanon-israel-100.html

22 Unter: https://www.timesofisrael.com/ben-gvir-says-10000-assault-rifles-purchased-for-civilian-security-teams/

23 Unter: https://www.huffpost.com/entry/biden-settler-violence_n_653963e7e4b0c8556103ca15

24 Unter: https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-11-12/violence-at-london-march-puts-spotlight-on-sunak-s-leadership#xj4y7vzk

25 "In Lateinamerika wächst die Kritik an Israels militärischem Vorgehen in Gaza", Vilma Guzmán, amerika21, 3.11.2023, unter: https://amerika21.de/2023/11/266657/lateinamerika-kritik-israel-gaza

26 Vgl. zum Folgenden: Bibhu Prasad Routray "Israel's War In Gaza: Curtains Drawn On The India-Middle East-Europe Corridor Project?", 12.11.2023, unter: https://www.eurasiareview.com/12112023-israels-war-in-gaza-curtains-drawn-on-the-india-middle-east-europe-corridor-project-analysis/ Sowie: Khalil Harb, 10.11.2023 "Arab normalizers turn their cheek as 'another Hiroshima' unfolds in Gaza", unter: https://new.thecradle.co/articles/arab-normalizers-turn-their-cheek-as-another-hiroshima-unfolds-in-gaza

27 Unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-10/usa-irak-syrien-soldaten-vergeltungsangriffe

28 Unter: https://edition.cnn.com/2023/11/05/politics/us-missile-submarine-middle-east/index.html

29 Unter: https://www.hindustantimes.com/world-news/israelhamas-war-israel-hails-us-nuclear-submarine-deployment-as-providing-deterrence-101699271919350.html